Tom Walter · Prosa

Was möchten Sie lesen?

 

 PROSA · GEDICHTE · SONGTEXTE

 

Augusttage 2019

Ich schlag mich tapfer durch ein bisschen Restnachtzeit und sehne die Sonne herbei, die alles beendet, Dunkelheit beendet, Gedanken beendet, Gedanken, die in mir wuchern, die in den Kanälen unter meiner Haut unterwegs sind, um mich zu verunsichern, die mir den Atem, das Geschick, die Fantasie und den Frieden nehmen. Und wenn sie endlich da ist, die Sonne, kocht in mir schon, ja brodelt bereits erwartungsvoll die Angst vor der kommenden Nacht hoch, die am Horizont des Tages bereits mit einem Fähnchen winkt. Bis dahin jedoch ist Taumel. Unwirkliche Zeit. Grauewolkendenken. Nichts ist gerade, alles ist schräg, die Welt ändert sich. Menschen stoßen Menschen vor Züge, Amerikaner bauen Mauern. Der Umgangston in der Welt ist eisiger, respektloser geworden. Jaja, ich weiß, dass das Wörtchen Respekt hier bei uns, im zivilisierten Europa, eine andere Bedeutung hat, als bei denen, die das Kurzstreckendenken in den Fäusten haben; denen der Mensch, der ihnen gegenübersteht, nichts bedeutet, der nur dafür taugt, ihn zu benutzen – zu eigenem Vorteil.

Ich hab neuerdings Sicherheitsdenken, bin aufmerksamer geworden, pass wieder auf, was ich sage, schreibe noch aufmerksamer als ich es zu Zeiten der DDR Tat. Denunzianten, Überwacher, Controllettis allerorts. Schade. Der Begriff Freiheit, seine Vision, ist zu einem offenbar belanglosen Wort verkümmert, reduziert auf die Buchstabenkombination. Freiheit ist anscheinend ein sinnloser, ja verlorener Gedanke, der nicht mehr zum Menschsein passt, die innenliegende Bedeutung ertrinkt zu Tausenden im Mittelmeer, wird an der Grenze zu Mexiko vermauert und nach Gutdünken allerorts interpretiert. Auf dem Altmarkt zu Dresden zum Beispiel oder auf blau-rot getränkten Papier, dort, ganz oben an den Fahnenmasten, die da hängen, wenn es um Posten, Macht, Glück und Unglück geht. «Heil dir Cäsar!» Oder wie auch immer die Namen derer sind, dessen Konterfei man tapfer zu ertragen hat. Hier und auch in der Welt um mich herum – Ellenbogen, Stöße, Gift, Galle, Mord, Unmoral und das Brechen von Ehrenwörtern. Menschen plündern wie im Mittelalter Menschen aus, neuerdings aber mit elektrischem Licht, das alles beleuchtet, wegen des Speicherns des Ganzen, um später Argumente zu finden für ein Dafür oder Dagegen. Ob je eine V e r a n t w o r t u n g begriffen, verstanden, gelebt wird? Wir vergiften unsere Umwelt und uns. Und das Traurige ist, dass wir wissen, was wir tun. Wir tun es mit vollen Bewusstsein.
Wenigstens die Friday-for-Future-Kids gehen auf die Straße und legen den Grundstein für neues Denken in den kommenden Generationen. Die Welt, in der ich meine einmalige Zeit verbringe, ist keine bessere geworden, nein ist sie nicht und ich hatte es mir so sehr gewünscht. So sehr.

 

_________________________________________________________

 

Von Hamsterrädern

Montag 05. November 2018

 

Ihre Durchlaucht Königin Gewohnheit hat sich, ganz nach ihrer Bestimmung, in Menschenleben breitgemacht. Man findet sie in Schlafzimmern, auf Fernbedienungen, auf Einkaufszetteln, in Kühlschränken, in CD-Regalen, im Denken und Handeln. Wie eine riesige Qualle versperrt sie die Türen zu neuen Ufern, zu einem anderen Leben, zu einem, das man längst aus den Augen verloren hat und das man einst so gern leben wollte. Auch liegt sie, die Gewohnheit, auf Mündern, verhindert das Einklagen von Wünschen, verschließt Augen und Ohren vor Neuem und fightet im Verborgenen mit der Neugier und dem Freiheitsdrang . Allzuoft gewinnt sie.
Die Gewohnheit ist ein altes, schleimiges, geiferndes, einsames Etwas, das es zu töten gilt.

 

________________________________________________________

 

Das Hotel des Lebens

Tom Walter·Sonntag 26. August 2018

Portier - Tom Walter

Nathanael war von Zeit zu Zeit eingenickt in seinem Kabuff, unten, an der Rezeption des Lebenshotels. Das Haus war ausgebucht, wie immer, die halbe Nacht war das Wegschicken von Neuankömmlingen seine Beschäftigung gewesen. Das Sprechen, bei der Bekanntgabe, dass die Kapazitäten erschöpft sind, hatte er sich im Laufe der Jahre abgewöhnt. Und es fiel ihm inzwischen leicht. Der Vorgang war immer derselbe: Jemand klopfte aufgeregt an das kleine Fenster, das in der Tür, die in Nathanaels «Büro» führte, eingelassen war, und fragte nach der Möglichkeit einer Unterkunft. Er lenkte dann den Blick von seinem winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher, in welchem sich die Welt grau in grau tummelte, in die Richtung desjenigen, der Einlass begehrte, um dann ablehnend seinen Kopf zu schütteln. Sein Mund, verkleidet mit Tüchern, so wie der Rest seines Gesichtes und des Körpers, sprach nicht, aber seine Augen sprachen. Und sie sprachen so, dass die Antragstellerin oder der Antragsteller sofort kehrtmachte und wie ein Kind, das soeben gesagt bekommen hatte, was die Konsequenzen für schlechtes Betragen sind, aus dem Hause schlich.

Nathanaels Blick ist magisch und intensiv, er spricht alle Sprachen der Welt, und das muss er auch, denn das Lebenshotel, in welchem er seinen Aufgaben nachgeht, hat internationale Gäste.
In der Nacht, von der hier die Rede ist und in der er in seinem Stuhl eingenickt war, schrillte wider Erwarten das Telefon. Zimmer 17. Ein Einzelzimmer. Eine Frau.
Es war vier Uhr in der Früh, als das geschah und es war nicht alltäglich. Die meisten Gäste in Nathanaels Herberge benutzten das Telefon überhaupt nicht, denn der überwiegende Teil seiner Besucher hatte verlernt jemanden anzurufen. Die Kommunikation außerhalb des Hotels, fand mit anderen Mitteln, auf andere Art, lediglich mit dem Austausch von Buchstaben und Fotos statt. Ihr Leben jedoch, jenes, das sie außerhalb von Nathanaels Residenz führten, genügte ihnen so nicht mehr, es schrie nach Veränderung. Alle waren sie angereist, um ihr Leben zu bedenken, um es womöglich auf eine erweiterte Ebene zu befördern. Theoretisch. Dennoch: Nur in äußerst seltenen Fällen führte an diesem Ort das Nachdenken über das Nutzen der Zeit und der Versuch der Selbstfindung tatsächlich zur Daseinsänderung. 99,9 Prozent der Gäste schlich nach einer Weile apathisch aus dem Hotelhinterausgang heraus – schnurstracks zurück in ihre gewohnte, bedauernswerte Umgebung. Sich entscheiden müssen ist keine leichte Sache. Nathanael hatte zu seiner Zeit damit niemals ein Problem.
Daher, weil es so gut wie nie passierte, dass die erweiterten Leistungen vom Hotel angefordert wurden, hoben sich, als das Telefon schellte, des Portiers Körperregionen die einst seinen Augenbrauen gehörten. Er konnte sich dagegen nicht wehren. Zwei Mal ließ er den Apparat läuten, streckte dann den linken Arm aus, hob den Hörer mit seinen behandschuhten Fingern ab, führte ihn ans Ohr und lauschte einer Frauenstimme, die mit fester Stimme kundtat: «Darf ich bestellen? Ich nehme alles, alles mit allem!»
Kein Wort kam Nathanael über die Lippen. Er nickte mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung und bugsierte ungelenk, weil ungewohnt, den Hörer wieder auf die Gabel des uralten Telefons. Seine Finger hatten Abdrücke in dem darauf liegenden Staub hinterlassen. «Alles», dachte er, «alles also, endlich einmal jemand, die die Zeichen der Zeit erkannt hat.»

Ein Knopfdruck genügte, um das Büro des Concierge um das zehnfache zu vergrößern. Die Wände fuhren klappernd zurück, die Decke schoss quietschend in die Höhe und ein Glasfußboden rollte sich mit großem Getöse wie ein Teppich unter Nathanaels Füßen auf. Von der Seite schoss eine Holztafel heran, die einer alten Telefonschaltwand aus den zwanziger Jahren glich. Unzählige Kontaktbuchsen, aus denen es rot herausleuchtete, flimmerten vor seinen Augen. Nun saß er da wie Kapitän Nemo in seinem Cockpit der Nautilus und hatte die Aufgabe ein Schicksal zu steuern, es auf den erwünschten Weg zu bringen, der da lautete: Alles mit allem!
Inzwischen war wieder Lautlosigkeit eingekehrt. Das Rattern der Wände war einer spannungsgeladenen Stille gewichen. Der Raum, in dem nun die Prozedur stattfand, hatte die feierliche Würde, die die Angelegenheit brauchte. Nichts regte sich mehr, nichts bewegte sich, kein Quietschen, kein Klappern. Die sich verschiebenden Wände hatten ihren Platz gefunden. Durch den Glasfußboden hindurch sah man auf die Welt, wie sie eilte, wie sie sich drehte. Auf allem, was sich dort unten zeigte, waren Uhrzeiger ohne Zifferblatt abgebildet, die sich um sich selbst drehten. Menschen trugen sie auf der Stirn, auf Bäumen erkannte man sie, auf Straßen, in Seen, in Flüssen, auf Bergen und auch in Wüsten waren sie ebenfalls vorhanden. Nichts war ohne Vergängnis. Ein Spiegelbild der Zeit. Ein stetiges Unterwegssein, ob Mensch, ob Tier, ob Sand oder Wasser. Pantha rhei.
Nathanael jedoch sah nicht hin. All das war ihm bekannt. Auch in weiteren zweitausend Jahren würde sich an der Welt nichts entscheidend verändern. Er nahm aus einer Schublade seiner hölzernen Schicksalswand, auf der «Zimmer 17» eingraviert war, kunstvoll beschriftete Steckkontakte heraus. Er wog sie in seinen Händen. Auf dem Ersten, der von der einen Hand in die andere wechselte, stand «Lebendigsein». Er nahm ihn und versenkte ihn in eine der roten Buchsen, die sofort grün aufleuchtete. Dabei verzog er keine Mine, was man von der Dame in Zimmer 17 nicht sagen konnte. Ihr war in diesem Augenblick die Lebendigkeit in jeden Quadratzentimeter ihres Körpers zurückgekehrt. Noch konnte sie nichts damit anfangen, zu neu, zu aufregend war dieses wiedergefundene Gefühl.
Der Schicksalslenker kontaktierte weiter all die Dinge, die zu «Allem» passten. Zimmer 17 bekam das, was dazugehörte: zu allererst die Kraft und den Mut Vergangenes, einst Geliebtes loszulassen, dann neue Liebe, Wissen, Klugheit, Weisheit, Weitblick, die Gabe vorauszusehen, Empathie, bedingungslose Treue und einen Partner fürs Leben, den Nathanael auch gleich mit allem, was in seiner Macht stand und mit dem, von dem er glaubte, dass es die Anruferin aus Zimmer 17 bereichern könnte, ausstattete.
Als der letzte Kontakt verbunden war, klingelte erneut das Telefon. Zimmer 17. Sofort verschwand der neue, der geweitete Raum, der Portier hockte wieder in gewohnter Umgebung. Er hob das Telefon ab und nickte wortlos beim Hören der dankbaren Stimme, die aus dem Apparat in sein Ohr flüsterte. Noch bevor er den Hörer wieder aufgelegt hatte, wehte die Dame, mit der er soeben telefoniert hatte, an ihm vorbei, heraus aus dem Hotel hinein in ihr neues Leben.
Die Frage nach einem freien Zimmer, Sekunden später, von einem neuen Gast, wieder einer Frau, deren Kummeraugen ängstlich durch das kleine Fenster in der Tür flackerten, konnte Nathanael diesmal mit einem hoffnungsvollen, nickenden Ja beantworten. Mit einem Tuch wischte er anschließend den restlichen Staub vom Telefon, obwohl er wusste, dass er es über lange Zeit nicht wieder berühren würde.

© T.Walter 08|2018

 

 

Adieu

Tom Walter·Donnerstag, 12. Oktober 2017

Das Zuknallen von Türen und das Verschlossenbleiben derselben erzeugt fast immer einen solchen Windzug, dass es an anderen Öffnungen des Lebenskorridors nur so rüttelt und schüttelt. Krönung ist oft ein einladendes Aufschlagen von Toren, deren Existenz man nicht einmal ahnte. Licht fällt wegezeichnend in ein neues, ein bewusstseinserweiterndes Leben, gibt eine andere, eine weitere einladende Linie preis. Die gilt es zu begehen, auch wenn das Hallen des erstgenannten Ereignisses als Herzkammerflimmern wohl nie enden wird. Narben sind taube, mahnende Erinnerungen.

 

__________________________________________________________________________________

 

Unschuld

Tom Walter·Freitag, 4. August 2017

Gestern traf ich meine alte Freundin die Unschuld. Wir begegneten uns bei einem Spaziergang am Weiher. Sie spazierte für sich, ich für mich. Wir hatten uns lange aus den Gedanken verloren, daher war die Überraschung, auch die Freude darüber zueinandergefunden zu haben, eine große.
Die Hand gaben wir uns nicht, denn sie wollte unberührt bleiben, klar.
Wir plauderten ein wenig über uns, und wie es uns ergangen war in der Zeit, in der wir uns nicht sahen. Auch erwähnte ich schuldbewusst, mit verschränkten Armen auf dem Rücken und mit einem Fuß, der kreisend über den Erdboden schlurfte, dass es Zeiten gab, in denen ich nicht einmal an die Unschuld, an meine alte Freundin gedacht hatte.
Sie, die Unschuld, beteuerte, dass sie mich sehr wohl immer in ihren Gedanken trägt, an mich denkt und stets versucht, lenkend auf mich einzuwirken; was eine Aufgabe ist, die nur mit großem Aufwand zu bewältigen sei, meinte sie. Ein Teil von mir sei inzwischen sie selbst, behauptete sie sogar.
Das gab mir zu denken. Ich scannte mich umgehend, durchforschte mein Ich nach Unschuld. Und fand sie im Überfluss. Im Handumdrehen hatte ich sie ausgemacht, gleich neben der Schuld konnte ich sie bemerken, sie stritten sich gerade heftig. Keiner der beiden gab nach. Ach ja, es waren doch "DIE" Unschuld und "DIE" Schuld, mir fiel es wie Schuppen von den Augen...
Die spazierende Unschuld, jene, die am Weiher vor mir stand, schien mein erfolgreiches Finden bemerkt zu haben und nickte bestätigend mit dem Kopf. Es schien, als wäre ihr das Gefundenwerden anderorts nicht neu.
Mich ließ das alles nicht mehr los. Es gab, schlagartig war es mir klar geworden, zu vieles an dem ich unschuldig war, auch unbeteiligt, ja nicht einmal wissend um deren Existenz. Ich verspürte eine Art von Scham ob meiner Dummheit. Das bestätigende Nicken der Unschuld, die immer noch mit großen Augen vor mir schwebte, wurde intensiver. Sie äußerte, dass wir uns verabschieden sollten, bevor sie als Unschuld sich an meinem inneren Durcheinander schuldig machen würde. Dass das schon geschehen sei, dachte ich laut, woraufhin die Unschuld errötete. Sie hatte sich schuldig gemacht, glaubte sie, man sah es ihr an. Die Unschuld hatte ihre Unschuld verloren. Das war für mich, neben meiner Verwirrtheit, ein weiteres, wahrscheinlich mein Leben beeinflussendes, Ereignis.
Die schuldige Unschuld ging. Ich blieb und fühlte mich schuldig. Dass man auch mal den Mund halten sollte, ging mir durch den Kopf. Ich nickte mir bestätigend zu, denn ich sah mich im Wasser des Weihers als Spiegelbild. Über mir Wolken, nichtdenkende, unschuldige weiße Wolken. Für jeden sichtbar. Und immer in Bewegung, nicht sprechend, sich Schuld und Unschuld unbewusst. Wie auch ich.

 

Matinée

Tom Walter·Dienstag, 20. Juni 2017

Vor einer Hauswand stehend sagt einer, dass es besser wäre, nicht heraus, sondern hinein zu schauen. Zu ihr sagt er das.
Sie, breitgelegt am Fensterstrand, nickt zustimmend. Mit toten Augen starrt sie ihn an.
Mit dem Rücken zur Welt steht er, schaut an ihr vorbei in ihr Leben.
Ein Papagei, an der Decke aufgehangen, schielt von seiner Stange, aus dem Käfig heraus, durchs Fenster in den Himmel. Milliarden von Vögeln ziehen Richtung Süden. Die Wände – mit Bildern beworfen, Südseefotos und andere Sehnsüchte. Ein Radio dudelt Schlagermusik. Ihr Kopf (von ihr ist die Rede, der Dame, die im Fenster ausgebreitet daliegt) wippt im Rhythmus, ihr Hintern auch. Aus den verschränkten Armen, in denen sie liegt, quillt ihr Fleisch, springt ihn an. Dass er doch den Blickwinkel ändern könnte, einmal, bittet sie und gibt mit einer Kopfbewegung zu verstehen, wo sich die Haustür befindet. Es quillt noch mehr.
Verwirrtes Denken und Zögern seinerseits.
Doch dann, unvermittelt, rumort es hinter ihr. Ein Zimmertor fliegt auf und eine Ganzkörperglatze, fett, tätowiert und unansehnlich, stürmt am Papagei vorbei Richtung Radio.
Stille.
Aus dem anderen Tor hüpft plappernd ein Kind herein. Es stößt an den Käfig. Der Vogel wird lebendiger, Federn stieben, Worte auch und Flüche.
Das Kind, vom Radio am Kopf getroffen wirft schreiend die Tür hinter sich zu.
Sich entfernendes Weinen.
«Zu spät», wimmert sie (von ihr ist immer noch die Rede, der Dame, die im Fenster ausgebreitet dalag und nun von der Glatze mit zusammengekniffenden Augen gemustert wird) und schließt das Fenster. Die Gardinen fallen, der Vorhang auch. Im Glas der Scheiben spiegelt sich der Himmel. Sie Sonne geht unter. Kein Vogel mehr. Der Strand in der Hauswand verwaist. Keine Südsee, keine Anderswelt, keine Sehnsüchte.
Und draußen murmelt einer, dass es wohl besser gewesen war, hinein, und nicht herausgeschaut zu haben. Beim Gehen hört er ein rhythmisches Quietschen, auch einen Papagei winseln, oder irgendetwas anderes.

 

___________________________________________________________________________

 

Vom Fremdsein

Tom Walter·Montag, 27. März 20177 Mal gelesen

Einst war auch ich ein Fremder in dieser Welt, fremd, wie es alle einmal waren. Überraschend tauchte ich auf, wusste nicht warum, wusste nicht woher und wusste nicht wohin. Gar nichts wusste ich, ich war nur Fleisch, winziges Fleisch.
Ich hatte sie mir nicht ausgesucht, diese Welt, sie war bereits da, als man mich in sie hineinwarf, damals, als ich geboren wurde. Ja, fremd war ich, unbekannt fast jedem und doch behütet, bewundert, geliebt, so jedenfalls hoffe ich, dass es gewesen war.
Vertrauensvorschuss.
Damals, als ich die Sprache dieser Welt noch nicht sprach, als ich sie mühevoll erlernen musste, als man mir beibrachte, die Welt, in der ich nun lebte, zu verstehen, um in ihr zu überleben, als ich von denen lernte, die mir zur Seite gestellt wurden und deren Verständnis des Universums, das auch ihnen einst eingebrannt worden war, damals also, da gab es das Wort FREMD für mich nicht. Neugierde gab es, meine Neugierde und die Neugierde derer, die mein Aufwachsen begleiteten.
Ich lernte leben. Ich lernte sehen. Ich lernte sprechen. Ich lernte Schreiben. Ich lernte Lügen.
Und so wuchs ich, wurde reifer, mit all dem Wissen wuchs ich, an all meinen Taten wuchs ich. Ich mehrte mein Wissen, saugte alles auf ohne Zweifel zu haben, gierte nach allem in einer provisorischen Welt, die sich immer wieder neu erschafft.
Dann begann ich zu unterscheiden. Ich lernte, Gelerntes zu hinterfragen. Lernte Außergewöhnliches. Lernte Rückgrat. Zeit floss durch die Zeit. Meine Zeit verflog – von mir unbemerkt –, ich lebte mehr, als dass ich lernte, lebte und lernte unbewusst, bis dass die Vergänglichkeit mir ein Fähnchen zur Orientierung in den Horizont steckte. Es flatterte noch unhörbar für mich in der Ferne und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. Erfolgreich. Wir wurden eins, es und ich, ließen uns nicht mehr aus den Augen.
Ich lebte langsamer, lief schleppend, lernte mit doppelter Geschwindigkeit, liebte zögernder, dachte intensiver, unterschied präziser, genoss tiefgehend. Dennoch: Das Fähnchen am Horizont wurde größer und größer, flatterte aufgeregter, kam mir näher, ja, wurde bereits hörbar.
Ich sah mich um auf dem Schlachtfeld meines Lebens, sah, was ich verloren hatte, sah, was man mir einst antat, verneigte mich vor gewonnener Freundschaft, vergoss Tränen für verlorene, versuchte zu verstehen, fragte warum und erinnerte mich daran, dass alles provisorisch ist, nicht für ewig.
Ich schaute mich um, bedachte mich, bedachte auch mich Umgebendes und ließ vieles mit einem Seufzen los.
Rundumblick.
Es wimmelte. Kunterbuntes Menschengewimmel. Fremde umtanzten mich, Fremde, die von sich behaupteten, besonders zu sein. Als ich jedoch näher hinsah, fiel mir auf, dass sie das alle von sich behaupteten. Dass ihnen ihre Besonderheit von außen angetragen wurde, verkündeten sie stolz. Aha! Alle waren sie also besonders, außer ich, fand ich, ich war unbesonders. Ich war der einzige Unbesondere in meiner Welt, in der ich nun plötzlich wieder fremd war, fremd, wie derzeit, als ich ungefragt das Weltlicht erblicken musste.
Fremd ist mir nun wieder diese Welt und fremd wird sie mir bleiben. Erfrischend ist, dass das Fähnchen, das einst am Horizont lustig im Wind wippte, mir bereits ein Lüftchen zufächelt, es trägt den Duft des Neuen in sich, den Duft des Unbekannten, den Duft der Neuentdeckung einer neuen Welt, in die ich unaufgefordert geworfen werde, wenn sie auch nur provisorisch sein wird, wie alles.

_______________________________________________________________________

 

Kompromiss

Tom Walter·Sonntag, 5. Februar 2017

Kompromisse sind scheiße. Einen Kompromiss machen zu müssen ist immer auch ein Zeichen von Schwäche oder fehlender Stärke. Am schlimmsten sind die Kompromisse, die man mit sich selber macht, die man sich auferlegt, die dann vor den Augen der Welt als große Geste verkauft werden und doch im Innern verhasst sind. Kompromisse sind stets nur eine Zwischenstation des Handelns. Kompromisse sind Selbstaufgabe der Ideale. Kompromisse sind Lügen. Kompromisse sind Zwischenstationen, an deren Bahnsteig die Hoffnung hin und her stöckelt, auf Zehenspitzen wippt und darauf wartet, dass ein Zug kommt, aus den Gleisen kippt und den Kompromiss unter sich begräbt.
Aber er kommt nicht, er kommt nie. Wahrscheinlich hat er auf der Reise Kompromissbereitschaft signalisiert und der Lokführer hat ihn gestoppt, um auf einen Gegenzug zu warten. Da denkt man sich sofort, dass er hoffentlich vor dem Signal, vor der Weiche das Ding zum Stehen gebracht hat und nicht danach. Wenn Letzteres eingetreten wäre – Bumm. Und die Hoffnung wird derweil vor Langeweile am Bahnsteig in der Erde versickert sein. Da gäbe es keine Kompromisse.
Trotzdem machen wir sie, Kompromisse, jeden Tag tun wir das, unser ganzes Leben hindurch. Kompromisse sind fester Bestandteil unseres Lebens und mindestens genau so oft im Spiel wie Lügen. Beides braucht man besonders in der Liebe. Ohne Kompromiss und ohne Lügen wird keine Liebe einen Sonnenaufgang erleben. Zu dem es freilich keinen Kompromiss gibt. Die Sonne geht auf und unter, einfach so, kompromisslos. Und warum tut sie das? Weil Kompromisse eben scheiße sind. Kein Mensch weiß, wie die Welt ohne Kompromisse aussehen würde, weil niemand je die Chance hatte es auszutesten. Kompromisse gibt es seit Ewigkeiten, wahrscheinlich waren sie Geschenkte Beigaben von Caspar, Melchior und Balthasar, was weiß ich. Wahrscheinlich ist die Existenz von Kompromissen nicht mehr auszulöschen. Wir müssen mit ihnen Leben, wir werden sie unter Anleitung unserer Mitmenschen weiter verfeinern, werden uns in die Taschen lügen und mit den Ergebnissen glücklich sein und darum gehts ja immer, um das Glücklichsein. Sind wir es also, glücklich, und denken nicht so viel über Kompromisse nach, an deren Auftauchen wir ohnehin nichts ändern können, auch wenn sie scheiße sind.

_________________________________________________________________________________

 

Freier Fall 13.01.2017

Vorhin, in der Nacht, als ich wie ein Kind, das seinen Vater lange nicht sah, dem Tag entgegen stürmte; als ich die umherwirbelnden Schneeflocken auf meiner Zeigefingerspitze jonglierte, als ich dem Sturm, der mir ans Herz wollte, die kalte Schulter zeigte, da dachte ich mich 730 Tage zurück. Ich sah mich selbst auf einem Turm stehen, der seine Spitze in den leblosen Himmel bohrte. Ich sah, wie ich mich wunderte, sah, dass ich verwirrt war, beobachtete, wie ich an mir herunterblickte, um ganz sicher zu sein, dass ich existierte, stellte erinnernd fest, dass sich meine Augen nach oben in die Schwärze wandten und vernahm, wie einst, ein Raunen unter mir, mitten im Gewimmel meiner Herkunft. Ich beobachtete mich, wie ich sprang, fühlte nach, wie ich an vielem vorbei zog, entdeckte Dinge, die ich niemals vorher bemerkt hatte, schmunzelte, als ich von Unwesentlichem abließ, und stürzte nach all dem in starke Arme, die mich auffingen, während aus vielen Salzwassertropfen tanzende Schneeflocken wurden. Noch heute Walzern sie durch die Welt und werden auf Zeigefingerspitzen jongliert die Glücklichen gehören.

________________________________________________________________________

 

Flüchtig 01.08.2016

Alles war so laut gewesen. Eine laute Welt. Sie schrie, sie kreischte, sie detonierte unablässig. Ich hielt es nicht mehr aus, konnte es nicht mehr hören, ertrug das Sehen ebenfalls nicht mehr. Meine Augen! All das, was ich sah, waren Schreie für die Augen gewesen, Augenschreie, frei Haus geliefert. Auch sie konnte ich hören. Augenschreie explodieren im Innern, enden nie, sind Unglückstsunamis.
Was war denn nur passiert.
Großstadtwege.
Wesen lebten unlebendig unter Betonbrücken ein Betonleben. Sie schrien nicht, waren ganz still. Im Fluss gondelten tote weißbäuchige Fische neben zerrissenen Schuhen und abgeschnittenen schwarzen Zöpfen. Zeitungen in Papierkörben bluteten. Triefend rotes Buchstabengewimmel. Ich scharrte in ihnen, bis auch meine Gedanken wund waren. Die Welt toste. Aus Lautsprechern heraus tönten Quarten, eine schriller als die andere. Ich fand eine Planke, las "Help us", eingemeißelt von ungeübter Hand. Mein Körper taumelte auf vergifteten Wegen. Alle Injektionen injiziert. Was mich bedeckte, riss ich mir vom Leib, übergab es dem Fluss und grub mit der Planke, die mein Spaten war, in seiner Nähe. Ich schaufelte, hob aus, schachtete tiefer und tiefer, versank binnen kürzester Zeit. Ich tauchte ab.
Bald wurde es stiller, tonlos für die Ohren, nicht still für die Augen.
Bilderschreie.
Plankenspatenstich für Plankenspatenstich zerteilte ich die Welt, warf sie um mich, sie und ihr Eigner hatten es verdient. Ihre Eingeweide schleuderte ich aus der Grube heraus.
Es regnete Erde. Ich grub, bis dass ich müde wurde, bis dass ich erschlaffte. Das "Help us" auf dem Holz war kaum noch zu entziffern. Das Sehen stockte, das Handeln auch, die Kraft und die Zeit machten eine Verschnaufpause. Mutter Erde blieb nun bei mir, umgab mich, kam mir immer näher, umarmte mich. Ich war erschöpft. Sie schaffte es ohne meine Hilfe nicht mehr nach oben hinaus, sie beregnete mich, wehrte sich. Meine Arme waren kraftlos geworden, bluteten. Dennoch grub ich, lockerte alles mich Umgebende. Ringsherum schürfte ich, neben mir ebenfalls, vor mir, hinter mit, unter mir. Ich versank tief und tiefer. Es wurde noch stiller. Oben war die Sonne bereits gestorben; und ich stieß und ich schlug und ich vergoss salziges Augenschreiwasser. Da dachte ich an die toten Fische mit den weißen Bäuchen und an die zerrissenen Schuhe und an die Quarten aus den Lautsprechern; an die Sonne dachte ich, die mir vorausgegangen war und an die schwarzen Kinderzöpfe im Fluss. Und dann war ich zufrieden, weil alles um mich herum endlich einstürzte und all das, was einst mein Leben war, mit mir. Die Plankenaufschrift wird wohl verschwunden sein. Die Wege über mir, die ich einst bewanderte, der Welt all zu dünne Haut, waren wieder eben und unauffällig. Mich hat es nie gegeben.

____________________________________________________________

 

Liebesbrief - 16.02.2016

Aus einem Tagesallerlei heraus stürzte ich suchend in eine bunte Nacht.
Sie hatte alles, alles Gute. Da war der Lärm, da waren Gesichter, da war das Licht und du warst da.
Wir redeten über den Tag, dann über uns, dann über die Liebe, der wir seit Langem hinterher hasteten, plauderten über Vergangenes, diskutierten die Zukunft, aßen, tranken, berührten uns flüchtig, und wachten am nächsten Morgen in der unbunten Wirklichkeit auf.
Da waren wir also angekommen, wir zwei Helden, die händehaltend an die Decke starrten. Mit den Fingern malten wir eine Zukunft in die Luft. Dann ging die Sonne auf. Schön war, dass du sie festhalten konntest. Sie ging uns all die Jahre niemals unter

__________________________________________________________

 

 

Feierabend - 09.09.2014

 

Heute Nachmittag hab ich geträumt. Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt, vor dem finalen Feierabend, daran denken kann. Bäume segeln durch die Luft, ganze Rinderherden, Hunde, Häuser, Gewürzgurken und Menschen. Auch Schweine. Ihre Schweineohren flattern im Wind und klatschen an ihre Körper, es klingt wie Applaus. Ringelschwänze sind leider nicht mehr vorhanden. Der Sturm hat sie gerade gestellt. Sieht lustig aus.

Von Maria hab ich geträumt. Einen Mariatraum. Wir hatten uns auf einem Autobahnparkplatz verabredet, an einer Raststätte mit Tankstelle, telefonisch, wie wir es immer machten, wenn es an der Zeit war. Die Seelsorge hatte uns einst zusammengebracht, damals, als wir zwei unsere Aggressionsprobleme hatten.
Beide waren wir pünktlich. Fast gleichzeitig, nur ein bis zwei Sekunden voneinander entfernt, trafen wir ein; parkten unsere Autos nebeneinander und küssten und herzten uns bis zur Atemlosigkeit. Sie schmeckte nach Betriebskantine. Anschließend redeten wir – also Maria. Sie plauderte von ihrem Alltag als »Erzieherin« in einer Frauenhaftanstalt; zählte unendlich viele Namen auf und berichtete von den Inhaftierten und ihren Schicksalen. Sie plapperte über ihre Kolleginnen, streifte auch das Thema Besuchstage und wollte einfach nicht aufhören, sich selbst und die Qualität ihres Lebens infrage zu stellen. Alles war so, wie es immer gewesen war, wenn wir uns trafen.
Sitzend auf der hölzernen Bank des Parkplatzes, hatte sie ihren Blick in den Himmel gebohrt und wieder einmal vergessen, dass ich ihr gegenüberhockte. Das tat sie immer, den Blick abwenden, wenn sie sich auf sich selbst konzentrierte. Maria war sehr intensiv bei allem, was sie tat. Niemand konnte ihren Redefluss stoppen, wenn sie etwas so sehr beschäftigte wie sie selbst.

Alle ihre Aufzählungen hatten mich müde gemacht. In meinem Kopf schwirrten die Namen der von ihr genannten Gefängnisinsassinnen. Ich nickte ein und hörte Marias Stimme nur noch als Geräusch, als eine Stimme, die keine Worte sprach, als eine Anhäufung von Lauten, die sich wie eine Melodieschlange um meine Ohren wanden.
Dann passierte es. Ich träumte einen weiteren Traum; einen Wiebketraum in einem Mariatraum. Es war nicht leicht, die Übersicht zu behalten.

Ich träumte von Wiebke, die mir erzählte, dass sie ihrem Chef nach Arbeitsende den Tresor ausgeräumt und anschließend das erbeutete Geld im Spielkasino gesetzt hatte. Erfolgreich! Sie hatte es geschafft, in einer Nacht zwei Millionen Euro zu verdienen. Das sei nicht schlecht, fand ich. Eine Sorge weniger.
Damit man sie nicht wiedererkennt, hauchte sie, hatte sie sich bei der Arbeit eine Perücke über den Kopf gestülpt und eine dunkle Brille auf der Nase getragen.
Auch das sei, bestätigte ich ihr, eine gute Idee gewesen. Sonnenbrillen machen jünger und Perücken sitzen ja immer perfekt, da muss man sich um die Frisur keine Sorgen machen. Wiebke fuhr sich sofort durch die echten Haare und senkte die Augenbrauen. Schon waren die Fältchen auf ihrer Stirn Geschichte.
Sie schilderte mir ihre räuberischen Freizeitbeschäftigungen an genau der Tankstelle, an welcher ich mit Maria saß. Sie war mit einem Sattelzug vorgefahren gekommen. Ein Lkw voller Süßigkeiten. Gummibärchen und so weiter. Nicht ohne Stolz in der Stimme verkündete sie, dass sie das Fahrzeug einem Trucker für eine Million Euro auf dem vorherigen Parkplatz gerade eben abgekauft hatte.
Ihren Ferrari – der Kauf war eine Kurzschlusshandlung direkt am Morgen nach ihrer Spielkasinonacht gewesen –, nahm er, ohne lange zu fackeln, in Zahlung. Sehr fair fand ich.
Sie hatte mich auf der Holzbank, auf der ich gegenüber von Maria saß, entdeckt und behauptete, wenige Augenblicke später, nachdem sie Platz genommen hatte, dass ich müde ausgesehen hätte. War ich auch. Außerdem hatte ihr meine Ente gefallen auf der ich mit dicken bunten Buchstaben »ATOMKRAFT? JA BITTE!« draufgemalt hatte. Das Auto parkte direkt neben uns. Auch wollte sie wissen, wer denn die Frau sei, die mir gegenübersaß und anscheinend tonlose Selbstgespräche mit dem Himmel führte. Ich teilte ihr mit, nachdem ich ihr haarklein die Gesamtsituation erläutert hatte, dass Maria gerade wieder einmal die Rede ihres Lebens hält und dass das Gespräch mit ihr, mit Wiebke, möglicherweise abrupt beendet werden könnte, wenn Maria mich anschubsen oder ansprechen sollte. Daraufhin murmelte Wiebke aha und flüsterte, dass das ziemlich abgefahren sei, wenn man so was könnte – Doppelträumen. Nicht ganz ohne Sorge in ihrer Stimme äußerte sie anschließend, dass der Abend, der, an dem wir uns trafen – es dämmerte bereits –, möglicherweise wohl ihr vorerst letzter in Freiheit sein würde. Mit Sicherheit hätte ihr Chef inzwischen die Polizei informiert und man würde nach ihr suchen.
Da konnte ich sie ein wenig beruhigen, indem ich ihr versicherte, dass man eine Millionärin, unterwegs mit einem Gummibärchenlaster, wohl nicht so schnell auf der Fahndungsliste haben würde.
Wiebke freute sich und fragte, ob ich was essen wolle, sie hätte da einiges im Kofferraum.
Ich schüttelte den Kopf. Ich mache mir ja nichts aus Bärenfleisch.

Hatte mich Maria soeben etwas gefragt?

Ich bat Wiebke mich für einen Moment zu entschuldigen, um in den Mariatraum hineinzuhören.
Nein, Maria philosophierte ausschweifend über das Anstaltsessen und darüber, dass die Knackis viel zu gut behandelt werden würden. Auch dass die Weiber – sie sagte wirklich Weiber – überhaupt nicht mehr auf ihre Figur achten würden. Kaum hätten Frauen fünfzig Lebensjahre hinter sich gelassen, meinte sie, würden sie sich ausschließlich über das Essen den Kopf zerbrechen. Und das sähe man ihnen eben auch an. Dass sich Männer in demselben Alter die Hälse nach Jüngeren verrenken, wäre allein die Schuld derjenigen, denen die Qualität einer Gulaschsuppe wichtiger sei als ein kostbares Satinnachthemd. Das, was ein Negligé in einer zwischenmenschlichen Beziehung auslösen kann, wäre, bei den Damen, bei denen sie das zweifelhafte Vergnügen hat sie betreuen zu dürfen, nur noch eine weit zurückliegende, trockene Erinnerung. Jeden Mann, der einer solchen Wuchtbrumme den Rücken kehrt, könne sie gut verstehen. Maria strich sich selbstvergessen links und rechts mit ihren Händen die Taille herunter, um sich die Bluse zu glätten.
Ich ließ sie weiter erzählen und kehrte zu Wiebke zurück, die mich musterte, als wäre ich vom Mond.
Sie fragte mich, mit den Fingern nervös auf der Tischplatte trommelnd, wie ich Maria fände, ob sie jünger sei als sie und ob man sie mit ihr, in ihrem Wesen, vergleichen könnte. Auch ob ich der Meinung sei, dass Maria besser als sie aussehen würde, wollte sie wissen.

Nein, beruhigte ich sie. Maria sei einzigartig, genauso einzigartig wie eine gewisse Gummibärchenwiebke, gab ich zurück. Ich zwinkerte und die Truckfahrerin entspannte sich. Sie fragte, wo ich denn gerade im wirklichen Leben wäre, wo ich in welchem Bett liegen würde, da ich doch momentan einen Doppeltraum verarbeite, einen Traum von Maria und einen von ihr, und ob sie sich Sorgen um mich machen müsse.
Da sagte ich ihr, dass die Überwachung unseres Kernkraftwerkes zu neunundneunzig Prozent computergesteuert sei und dass es auch den anderen Kollegen schon mal passiert ist, dass sie eingeschlafen sind. Die Bedenken, falls sie diesbezüglich welche hätte, sagte ich, könne sie beiseiteschieben, denn wenn es Unstimmigkeiten auf der Arbeit geben sollte, würde sie es schon mitkriegen. Gedanken müsse sie sich wirklich keine machen. Theoretisch. Sie brummelte so was Ähnliches wie – ach so.
Die beiden Frauen, Maria und Wiebke, die ja nebeneinandersaßen, schienen sich gegenseitig nicht wahrzunehmen. Ein Traum eben. Wiebke jedenfalls machte den Eindruck, als würde sie nicht hören, was Maria von sich gab. Mir hingegen ging die Gulaschsuppe nicht mehr aus dem Kopf, der Magen knurrte und ich überlegte mir, was die Truckerfahrerin wohl zu nachtschlafender Zeit auf dem Leibe trägt.
Unaufgefordert begann auch Wiebke ihr Herz auszuschütten, sie ließ ihr Arbeitsleben mir gegenüber Revuepassieren.
Ich musste mir anhören, dass Sägewerke vom Aussterben bedroht sind und dass die Russen die Preise kaputtgemacht haben und dass das, was sie getan hat – das Ausräumen des Tresors ihres Chefs nämlich –, Notwehr gewesen sei.
Drei Monate lang musste sie sich aus der Kaffeekasse ernähren, da sie keinen Lohn erhalten hatte. Jeder Mensch müsse ja von Zeit zu Zeit etwas essen, wimmerte sie, man könne ja nicht von Luft und Liebe leben.
Als das Wort Essen gefallen war, schreckte ich hoch und fand, dass Maria tatsächlich über eine gute Beobachtungsgabe zu verfügen schien, und ich fand auch, dass sich Wiebke für ihr Alter ganz gut gehalten hatte. Noch. Den Gedanken an ihr Nachthemd warf ich sofort auf Nimmerwiedersehen über Bord.
Irgendwann aber, die Diebin fuhr fort – das schlechte Gewissen sprach aus ihrem Mund –, wollte sie sich überlegen, einen Teil des geraubten Geldes zurückzugeben, das aber auch nur, falls ihr Arbeitgeber Wert darauf legt.
Da meinte ich, dass ich es mir ganz gut vorstellen kann, dass das so sein könnte und wies sie darauf hin, dass sie möglicherweise demnächst eine neue Chefin haben würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Maria heißt, sollte sie eventuell auch in Betracht ziehen. Des Weiteren bat ich sie darum, falls dieser Fall eintritt, Maria schöne Grüße von mir auszurichten; eine Tüte Gummibärchen würde ihr, Wiebke, sicherlich einige stählerne Türen öffnen. Wiebke versprach daran zu denken, wenn es tatsächlich so weit kommen sollte.
Wir schwiegen und hingen unseren Gedanken nach. Marias Sprachmelodie tänzelte weiterhin in meinen Ohren. Es war immer noch so, dass mein Mariatraum nicht zu Ende gewesen war und der Wiebketraum ebenfalls nicht. Unablässig donnerten Lkws an uns vorbei, stoppten, fuhren weiter oder pausierten; Autos auch und Motorräder. Auf einem saß Sophie, wie sich später herausstellte. Ein weißes Bike, mit einem pinkfarbenen Tank, fuhr sie. Sie hatte bei uns angehalten und gefragt, ob sie sich zu uns setzen könne. Wir sähen interessant aus, flötete sie. Ich hatte nichts dagegen gehabt, Platz war ja ausreichend vorhanden, nur Wiebke zierte sich mit einem Mal, so hatte es den Anschein. Urplötzlich sagte sie nichts mehr. Maria habe ich lieber erst gar nicht gefragt, ich wollte sie ja nicht durcheinanderbringen.

Sophie erzählte, dass sie auf der Flucht sei. Sie hätte in einem Spielkasino einer Frau mit Perücke und dunkler Sonnenbrille beim Gewinnen geholfen, dort arbeite sie als Croupier. Irgendwie hätten die Betreiber des Glücksspielparadieses Unstimmigkeiten mit dem Magneten unter dem Roulettetisch festgestellt und jagden sie nun. Sie müsse nun die Frau, um die es geht, wiederfinden, um sich irgendwo einen Neustart finanzieren zu können. Die sei nämlich urplötzlich verschwunden gewesen und hatte nicht, wie verabredet, auf Sophies Dienstschluss gewartet. Dass sie sie leider nur an ihrer Sprache wiedererkennen könnte, bedauerte Sophie sehr. Sie mutmaßte, dass es sicher keine leichte Aufgabe sei, die Dame ausfindig zu machen. Ob ich mir eventuell vorstellen könnte, dass die Gejagte immer noch eine Perücke und eine Sonnenbrille tragen würde, wollte sie wissen.
Ich glaube kaum, sagte ich und fand, dass Wiebke eine tolle Frisur und schöne Augen hatte. Wiebke hüstelte ein wenig unter meinem Blick, als würde sie einen Frosch im Hals beherbergen. Ihre Lippen waren schmal geworden und das Kinn zitterte ein bisschen. Auch ihre Füße tippelten nervös auf dem Boden. Sie schwieg beharrlich.
Die offensichtlich Spielsüchtige sei mit zwei Millionen Euro aus dem Casino verschwunden, obwohl sie versprochen hatte, ihr die Hälfte des Gewinns abzugeben, fuhr Sophie fort. Das hätten sie so auf dem Damenklo vereinbart und was man dort bespricht, sei Gesetz.

Wiebke tat gelangweilt. Sie gähnte und erhob sich, um anschließend, ohne ein Wort zu sagen, zu ihrem Laster zu marschieren. Sie warf den Motor an und donnerte los. Aus dem Wiebketraum war nun ein Sophietraum geworden, der in einem Mariatraum stattfand. Letztere übrigens plapperte im Hintergrund ohne Unterlass.
Sophie wollte wissen, ob ich darüber informiert sei, dass man bei einem Spielkasinobetrug von den Betreibern umgenietet werden könnte. Ich nickte, denn das hatte ich schon mal im Fernsehen gehört, in der Sesamstraße, glaube ich oder bei Aktenzeichen XY … ungelöst. Beide Sendungen darf ich nicht mehr sehen, mein Psychologe hat es mir verboten. Sie würden meine Fantasie negativ beeinflussen, auch meine schlafende Boshaftigkeit würde zurückkehren. Ich riet Sophie, doch einfach dem gerade abgefahrenen Laster hinterher zu fahren. Die Frau am Steuer sei hauptberuflich Anwältin und ständig in Eile, so wie gerade jetzt eben. Sie hätte es ja wohl mitbekommen. Und ich sagte ihr auch, dass ich es bedaure, nicht ein paar Minuten früher schon darauf gekommen zu sein, ihr das zu sagen. Sie sei, sagte ich, und meinte damit Wiebke, besonders spezialisiert auf alles, was das Glücksspiel betrifft. Mit Nieten kenne sie sich daher gut aus. Sie trage bei ihren Ermittlungen sogar Perücke und Sonnenbrille, log ich. Wenn sie sie eingeholt hätte, könne sie sich die Requisiten ja einmal zeigen lassen.
Sophie brauste sofort grußlos davon und mich schüttelte jemand. Maria.

Sie fragte, ob ich ihr überhaupt zugehört habe und ob ich mitgekriegt hätte, dass in ihrer Anstalt zwei Frauen eingeliefert worden waren, die sich gegenseitig beim Glückspiel betrogen hatten. Oder ob ich etwa nicht zugehört hätte. Doch da konnte ich sie beruhigen, indem ich ihr die Damen, die sie meinte, detailliert beschrieb und den Fall haarklein wiederholte. Maria war beeindruckt. Ob ich sie noch einmal herzen und küssen wollte, fragte sie. Ich Dussel schüttelte den Kopf und das hatte sofort Folgen. Marias Gesicht verzerrte sich und sie haute mir eine gewaltige Ohrfeige runter. Das riss mich sofort aus meinen Träumen und beförderte mich zurück an das Steuerpult des Reaktors. Es war genau 17:00 Uhr, Feierabend. Mein Chef stand fuchtelnd neben mir. Er hatte ein rotes Gesicht, als wäre er gerade mit einem Sonnenbrand aus dem Urlaub gekommen. Mir brannte die Wange.
Nach Schichtübergabe setzte ich mich in mein Auto und gondelte nach Hause. Es war stürmisch geworden. Mir war, als würde ich von einem Ferrari, mit einem dicken Glatzkopf am Steuer, überholt; auch von einem Lkw mit der Aufschrift »Gummibärchen«. Ihm folgte ein weißes Motorrad mit einem Pinktank, auf dem eine Frau ohne Sturzhelm mit wehenden Haaren saß. Hinter ihr, mit Blaulicht und Sirene, brauste ein Pkw an mir vorbei, der von einer Uniformierten, die einen Schlagstock auf dem Armaturenbrett zu liegen hatte, gesteuert wurde. Aus meinem Autoradio tönten die Nachrichten. Dass es einen Störfall in einem Energieunternehmen gegeben hatte, behauptete der Ansager und dass sich die Bevölkerung auf strahlendes Wetter einstellen solle. Das war zum Dienstschluss endlich einmal eine gute Nachricht gewesen.
Dann tauchten am Himmel die applaudierenden Schweine auf.

 

 

 

Jogging - 21.07.2014

 

Da war die Bank. Ein Weg davor. Einige Meter weiter der Weiher. Enten kurvten im Schilf. Die Sonne brüllte vom Himmel herunter. All dies in meinen Augen.
Ein Mann kam, setzte sich zu mir, begann zur reden. Einer von diesen Typen, die keine Antworten erwarten. Dass es ja wohl ein guter Ort zum Pausieren sei, meinte er, und ob ich wüsste – was er sich eigentlich gar nicht vorstellen kann –, dass die Welt schlecht sei und man sich nur mit Ausflügen in die Natur überhaupt noch Erholung verschaffen kann. Das wäre auch gut für die Gesundheit. Mal was anderes erleben, konstatierte er. Enten gäbe es bei ihm an Weihnachten, tönte er mit flatterigem Blick aufs Wasser, die wären ja jetzt schon fett genug, auch ohne dass er ihnen Weißbrotstücke an den Hals werfen würde, wie es die Rentner machen und er ja keiner sei. Prüfend, ob ich da nicht anderer Meinung bin, schnellte sein Blick in mein Gesicht. Längst hatte ich es auf unlesbar umgestellt. Mir dröhnten die Ohren.
Eine Wasserflasche tauchte aus seinem Rucksack auf, gurgelnd wechselte der Inhalt den Aufenthaltsort. Dann erhob er sich und fixierte mit einem zusammengekniffenen Auge eine nahende Joggerin. Stehend, ohne sich fortzubewegen, fiel er in den Laufschritt. Hechelnd passierte die Sportlerin uns. Kein Augenaufschlag. Der Typ folgte ihr unvermittelt und warf ihr unterwegs nach, dass ihr Hinterteil playboyverdächtig wäre, ihre Vorderfront ihn an seine Mutter erinnere und sie doch warten solle, da er noch einige andere Komplimente für sie hätte. Abrupt stoppte sie. Er erschrak, stolperte, überschlug sich und begab sich vor ihren Füßen in die Horizontale. Sein Rucksack segelte durch die Luft. Da lag er nun. Von Vorderfronten und Hinterteilen war nicht mehr die Rede. Ein Bein war im fast rechten Winkel zur Seite geklappt, auch ein Arm. Erst hatte er kurz aufgeschrien – die Enten im Wasser stoben auf –, dann holte ihn die Bewusstlosigkeit. Die Joggerin zuckte mit den Schultern, stopfte sich Knöpfe in die Ohren, summte eine Melodie mit, kickte mit dem Fuß eine halbleere Wasserflasche aus dem Weg und setzte ihren Lauf fort.
Ich war allein. Die Stille tat gut.
Eine der Enten war bereits zurückgekehrt. Weihnachten ging mir durch den Kopf, gutes Essen, Geschenke und brennende Tannenbäume. Da fiel mir die Feuerwehr ein, und die dazugehörige Telefonnummer ebenfalls. Zur Kontrolle rief ich dort mal an. Die Nummer stimmte noch.
Während der Mann noch ein bisschen blieb, machte ich mich auf den Weg. Die frische Luft tat wirklich gut. Erholung und Gesundheit, das waren meine Gedanken.

 

 

 

Eine Handbreit Wasser - 24.09.2013


Der Himmel hustete Glassplitter, der Wind schlief nicht. Stelzend hoben sich Beine, zertraten salziges Wasser; monotones Turmlicht schlug um sich. Mitternacht.
Cornelius Bromberg wankte. Der Sturm ablandig. Was ihm vom Tag übrig geblieben war, glühte in seiner Hand, zerfraß sein Denken, motorisierte seine Gliedmaßen. Vorwärts!
Gedanken abgemäht, fliehende Blicke aus Augenschluchten und Sturm und Dagegenlehnen und Hoffen und Festhalten. Die Hand blutleer. Pechschwarze Nacht. Orkanfetzen, die wie Schreie jaulten, trieben ihn an, ließen nicht von ihm ab. Böenwalze am Himmel, ihm folgend. Brüllende Nebelhörner im Weit.
Da, das Haus. Endlich! Leichtfüßiges Kerzenflackern, eingerahmt in butziges Glas. Riedduft, vertraut. Heimat!
Bromberg zögerte, hockte sich auf die schief im Quarzsand steckenden verwitterten hölzernen Stiegen.
Der Krieg am Himmel pausierte, Krummes, Fahles, Abgenagtes blasste neugierig, wolkige Leichen streifend, hervor. Ein letztes Ausatmen fegte durch den Strandhafer. Das Meer, in sich gekehrt, nahm Anlauf, scheinbar.
Übergroße Buchstaben, faltig wie ihre Hände, knisterten sich aus seiner Faust. »Die letzte große Reise, du solltest Ahoi sagen kommen« – mehr gestochert als geschrieben, in Monumentbuchstaben von mütterlichen Händen ins Papier gemeißelt, so krallte sich die schlimme Nachricht in seine Augen, schlug Bücher auf, erzählte:

Kolja zerrte, sich selbst würgend, wütend bellend an den klappernden Stahlgliedern der Kette; Mitnahme fordernd, neidisch, die Hände fixierend, die kleine in der großen. Vergebens. Mitgehen war nicht seine Aufgabe; bewachen war seine Schuldigkeit – Mutter bewachen.
Sie schlurften in ihren Stiefeln – der eine aufgeregt plappernd, seinen winzigen Seesack geschultert, der andere souverän, beruhigend –, westwärts nach Hansens Werft hin.
Am Himmel gähnte die Sonne, warf achtlos ein paar Strahlen Wärmendes ans Ufer und verscheuchte die Reste der Nacht. Seufzende Schritte auf nassem Boden, kleine und große.
»Und ich bin wirklich der ...?«
Nicken.
Eine kleine Hand drückte eine große fester. Das Vatergesicht weichte auf. Tanzende Augenfältchen.

Hansen wartete schon, hatte den Slipwagen ins Freie gezogen. Darauf, abgedeckt mit vergilbtem Segeltuch, eine Kontur.
»Moin, Moin!«
Mehr war nicht, nur Kurzworte und große Augen aus kleinem Kopf um sich wirrend.
»Denn woll'n wie mol.«
»Position, Männers!«
Und man sortierte sich: Hansen vorn, Bromberg Senior hinten, das Kind – der klaren Sicht wegen – auf Distanz; wie in den Boden gerammt, statuengleich, Hände an der Hosennaht, den Seesack am Fuße.
Auffordernder Blick.
Lang gezogenes Kindwort: »Auf die Plätze, fertig, los!«
Rauschendes Geräusch, kindliches »Oh«, männliches »So!«
Und es funkelte nicht nur die Sonne. Blitze aus Chrom, gewienertes Holz, umgelegter Mast, gebettet im Schneeweiß der Segel, noch schlafend und: ein Name am Bug.
Hansen schwieg, das Kind bebte und der Vater befahl: »Lies!« Und das Kind buchstabierte, mit dem Finger die Schriftzeichen nachmalend: »C–O–R–N–E–L–I–U–S«
»Wat'n feinen Namen für'n Boot«, Hansen reffte das Tuch, spie seinen Priem aus.
»Denn woll'n we em ock mol anstännich benamsen, heste dien Buddel mitbröcht?«
Hektisch kramte das Kind zu seinen Füßen, zog ein Buddelschiff hervor, reckte es ihm entgegen. Zweifelte.
Und wieder schlug das Sonnenschwert zu, ließ das Glas in der Kinderhand aufblitzen.
»Gaut!«, Hansen war zufrieden. Das Kind zitterte mit halber Fahrt.
Bromberg Senior stülpte sich den Sohn über, trug ihn breitschultrig zum Bug. Hansen bekreuzigte sich, der Vater plagierte, sein Sohn ebenfalls.
»Nu mog«, murrte der Vater und das Kind sog die Salzluft ein, bevor es begann:
»Und wenn das Meer auch um sich schlägt, den Mast sich holt, an Planken sägt, die See dich frisst, mit ihrem Schlund, so wirst du noch auf tiefem Grund, wenn ewig du dich schlafen legst, den Namen tragen, den du trägst … – und bring mich und meinen Vater immer wieder heim, dass Mutter keine Tränen macht und immer eine Hand...«, es zögerte – (Text vergessen) – »eine Handbreit Wasser unterm Kiel«, half der Vater und das Kind wiederholte: »Und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel!«, sprach's und zerschmetterte die Buddel an den Planken. Krachendes Geschepper, ein Jahr Kinderarbeit.
Hansen grinste zahnlos, fingerte eine Flasche Rum aus der Joppe, trank, und reichte sie dem Kind. Es probierte, schüttelte sich und rutschte von den Schultern. Zerknülltes Gesicht.
Der Vater nippte, lachte, presste sein Kostbarstes in den Schnürlsamt seiner Hose und fuhr ihm durch den blonden Schopf.
Zahnräder knirschten, Stahlseile vibrierten, Möwen flogen auf. Stapellauf!
Und ratternd schabte das Schiff gen Wasser, teilte es – und schwamm. Kinderapplaus!
Hansen verleinte es fachmännisch, Bromberg Senior half.
Und das Schiff schwamm.
Männerschweigen. Ewigkeiten. Kindliches Hochschauen. Ungeduld. Knarrendes Fenderreiben am Steg. Dann, endlich – Fallreep.
Sie hievten sich gegenseitig an Bord.
»So, Kaptein, nu sech an!«, der Vater musterte das Kind, die Mundwinkel splitterten.
Hansen: »Ohne Prinz-Heinrich ward dat nix.«
Flinke Kinderfinger kramten die Mütze hervor, falteten sie auseinander. Unsicheres Blickwerfen. Beruhigendes Schulterklopfen väterlicherseits und Kinderkopfversinken.
»Nu büste uns Kaleun, Jung, sech an, Kaptein, wat soll'n we mocken?«
Beide Männer nahmen Haltung an, erwarteten Befehle, diesmal ohne Lächeln. Bootsmann und Matrose.
Und das Kind befahl in Kapitänsmanier, einstudiert über Wochen: »Klar bei Vorleine?«
»Is klar!«, repetierte der Vater (Bootsmann).
»Vorleine los – Fahrt achteraus, Fock back an Steuerbord!, über die Fock!« Wortgewimmel rappelte aus Knabenlippen.
Der Vater stolz.
Und sie stachen in See, das Kind am Ruder; eingenässt vor Aufregung, Prinz Heinrich über die roten Ohren gezurrt, unterwegs Befehle gebend: »Hol dicht die Schoten am Wind; hol an, Fier auf die Schoten auf halben Wind; hol an, Fier auf die Schoten auf raumen Wind; Fier auf die Schoten vor dem Wind; Fock über zum Schmetterling!«
Und die Besatzung folgte, verstohlen fechtend mit Blicken.
Und das Schiff schwamm.

Mittagsglut, Kolja zerrte an der Kette. Blasige Corneliushände. Glücklich. So glücklich. Muttertränen, Mutterzuhören über Stunden und Hände pflastern. Und glückliches Einschlafen und Vaterküsse zur Nacht, raue Hände schmirgelten den seligen Kaptein.

Bromberg Junior, nun fünfzig, immer noch hockend auf der Stiege, suchte die Blasen von einst in seinen Handflächen. Hinter ihm schurrte es mütterlich, ungekämmt mütterlich.
»Hei röpt nach die.« Geröllworte, erschlagend, unvertraut.
Der Mond verzog sich, hinterrücks Wolken schwängernd. Die See wie Glas.
Und Bromberg zögerte sich ins Haus, unterwegs Wangen streichelnd; bezwang die Treppe, zählte die Stufen (12) und schob die Tür auf.
Vater.
Und Hände suchten Hände, fanden sich, alte und ältere und Augenblicke flochten sich auf ewig ineinander, bis dass die Zeit vereiste.
»Und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel, Bootsmann«, murmelte das Kind – und der Vater legte ab.

 

 

_______________________________________________

 

 

 

Unterwegs

Hand in Hand, fast nackt, hetzten Emma und Victor durch die von Sauerstoff überquellende Luft in den Weinbergen der Côte Chalonnaise. Sie war ihnen Kraft gebender Antrieb auf dem Weg in eine ersehnte neue Heimat, gab ihnen Obhut, war ihnen vertraut; war behütende Mutter, umarmte sie moosig duftend, wehte ihnen kühlend durch die Haare und machte ihren Atem sichtbar. Nach allem, was hinter ihnen lag, war sie ihnen Verbündete, Vertraute; war tragendes, beflügelndes, am Leben erhaltendes Element, umgab sie wie eine schützende zweite Haut, die feuchtigkeitsschwanger verhinderte, dass die abscheulichen Geräusche sie nicht mehr erreichten. Endlich keine Schreie mehr, kein Keifen, keine Morddrohungen, kein Hassregen und keine Klagen aus Mündern all derer, die nur die halbe Wahrheit kannten.
Zweige peitschten sie, trieben sie an, rissen bald Wunden in Arme, Beine und Gesichter, bis heißes Blut floss, das mit dreifacher Geschwindigkeit in ihnen unterwegs war, angetrieben durch den alles bestimmenden Motor Angst. In winzigen Bächen strömte es an ihnen hinab, bildete augenscheinlich ein weiteres Adergeflecht auf ihrer Haut und paarte sich mit salzigem Wasser – ihrem Schweiß. Sie spürten ihre Herzen heftig trommeln, legten sich ihre zitternden Hände gegenseitig auf, um sie zu beruhigen, umarmten sich, atmeten schwer, hetzten, liefen, stockten; sahen sich an, redeten nicht, lasen Unaussprechliches in flackernden Augen, küssten die Wunden des anderen und ließen sich nicht los, nicht ein einziges Mal.
Suchende in Burgund waren sie, flüchtendes, nicht denkendes Liebesvolk, Ausgestoßene, Vertriebene, Unverstandene, Verfolgte.
Und in Chalon-sur-Saône sattelte man die Pferde und ließ die Hunde los. Die Jagd war eröffnet.

(aus dem Roman "Blutrotes Burgund")

_______________________________________________

 

Kino

 

Gestern war ich im Kino, um acht. Ich geh immer um acht und ich geh montags, da ist der Laden leer, da hab ich meine Ruhe, oben, in der letzten Reihe. Drei Karten kauf ich mir immer, drei Stück und alle nebeneinander. Auf den mittleren Platz setz ich mich, rechts liegt meine Jacke, falls Winter oder Herbst ist, ansonsten bleibt der Stuhl leer. Links, oder besser zu meiner Linken, auf den Polstern, steht der ganze Kram, den ich unten an der Fressbude gekauft hab. Dann geht's Licht aus. Werbung. Ich ess was und sauf mir einen an, dreißig Minuten lang und wunder mich immer, warum die Lampen zwischendurch ein paarmal an- und ausgeh'n. Blöd, wirklich.
Dann kommt der Film, meistens. Nur einmal kam er nicht. Der Vorführer hatte – später im Foyer ging das Gerücht ... – einen Anruf seiner Frau gekriegt, es wäre Schluss und so, da hat er den Filmapparat kaputt gehauen, nur die Bullen konnten ihn stoppen. Das war ein schöner Abend, besser jedenfalls als der Film, denn ein paar Wochen später hab ich ihn mir doch noch angeschaut. Welchen Film? Hab ich vergessen. Den Vorführer nicht. Ich seh ihn manchmal im Traum, sehe, wie ihn die Polizistin an den Haaren in ihr Ganoventaxi geschliffen hat. Die Hände hatte sie ihm mit Kabelbindern, eine gute Erfindung, auf dem Rücken zusammengebunden. Weiber!
Gestern lief ein Schinken aus den zwanziger Jahren. Ein alter Sack, Lehrer oder so was, hat sich in eine Tänzerin verknallt. Schwarz-Weiß-Film und schlechter Ton, die Werbung davor war das Beste. Außer mir war niemand da. Ich war allein, ganz allein, wie so oft, auch gut. Als Schluss war verstand ich, warum das Ding niemand sehen wollte. Aber ich war satt und ein bisschen besoffen. Wenigstens das.
Weit ist es nicht, von mir bis zum Kino, nur fünfhundert Meter. Ich wohne in einem Neubau, Hochhaus, sechzehn Etagen, ganz unten ist meine Bude. Die Hausmeisterwohnung. Das »I-Haus« nennt man es bei Wolle in der Kneipe, das »Intellektuellenhaus«. Ärzte wohnen bei uns, Anwälte, Direktoren und Professoren. Trotzdem sieht es im Fahrstuhl immer aus, als hätte ne Eishockeymannschaft sich bei uns breitgemacht oder ein Boxerklub. Überall Unrat. Ich war mal beim Boxen, auch beim Eishockey. Sogar in der VIP-Lounge war ich gewesen! Dreihundert Jahre Gefängnis saßen dort am Tresen, man betrank sich per Kreditkarte. Beim Boxen war es kaum anders, nur dass dort vierhundert Jahre Gefängnis saßen, aber mit goldenen Ketten um den Hals.
Marlene hatte die Karten organisiert. Sie wohnt über mir und schläft den ganzen Tag. Kennengelernt haben wir uns, als einmal ihre Wohnungsschlüssel verloren gegangen waren, oder ein Freier sie ihr geklaut hatte, ich weiß es nicht mehr genau. Mit nem Dietrich hab ich die Tür aufgekriegt und als Dankeschön hat sie die Karten besorgt, von irgendwem, gesagt hat sie es mir nicht.
Einmal hab ich sie mit zu mir genommen. Sie lag vor der Haustür, besoffen, blau wie ein Schlumpf. Nur noch gelallt hat sie und trotzdem versuchte sie zu singen. Wenn sie nüchtern ist, manchmal kann ich es durch die Decke hindurch hören, ist es erträglich, aber an jenem Abend war's nicht auszuhalten.
Sie sieht gut aus, immer noch, obwohl sie schon vierzig ist, glaub ich. Auf dem Sofa hat sie dann geschlafen, wie ein Engel, und an ihrer Tür hat es die ganze Nacht gebimmelt. Schrecklich. Am nächsten Morgen, beim Kaffee, hat sie mir erzählt, dass es eine 1000 Euro Nacht gewesen wäre und dass ich ihr jetzt das Geld schulden würde. Da hab ich sie rausgeschmissen. Aber nach ner Woche war wieder alles gut, Marlene wieder fröhlich und ich holte ihr wieder die Klamotten von der Reinigung. Sie trägt rosa so gern. Einmal hab ich ihren Wäschebeutel durchsucht. Ekelhaft!
Sie hat ein Kind, ein Mädchen, aber das arbeitet woanders. Bessere Gegend sagt Marlene, und, dass sie es leichter als sie selbst haben würde.
Heute ist Dienstag und in knapp einer Woche wieder Montag, Kinotag. Was dann laufen wird, weiß ich noch nicht, ist mir auch egal. Hauptsache raus hier.

_______________________________________________

 

Theater

 

»Ich weiß nicht, wie das ist, mit dem Tod, ich bin ja noch am Leben, wie soll ich das wissen? Vielleicht ist es wie Schlafen, eben nur ohne Aufwachen oder so. Aber eigentlich will ich noch gar nicht darüber nachdenken, das kommt sowieso von ganz allein, denk ich, wenn es an der Zeit ist und ich alt bin, aber noch bin ich es nicht, noch funktioniert alles an mir, wenn du verstehst, was ich meine«, antwortete er.
   Ein kurzes Zucken um seine Mundwinkel sollte wohl ein Lächeln andeuten, als er ihr zuprostete. Das Glas in ihrer Hand drohte zu zerspringen. Bei jedem Wort, das er sprach, bildete sein Atem kleine Wölkchen an der Glasscheibe des Fensters im zehnten Stock. Sie hatten das Licht gelöscht. Die Aussicht auf die schlafende Großstadt mit ihren Tausenden Glühwürmchen, deren Licht wie ein Sternenteppich bis hin zum Horizont funkelte, war grandios. Kalt war es geworden, viel zu früh, es war doch erst Oktober, meteorologischer Herbst, immer noch.
   »Außerdem, was stellst du denn für Fragen an einem solchen Abend? Wir sollten glücklich sein und uns freuen, dass uns so was nicht passiert.«
Es war so still im Wohnzimmer, dass man den Aufzug draußen im Aufgang durch seine Röhre hindurch rauschen hören konnte. So spät kam nur Emilia nach Hause. Beide nahmen das Geräusch wahr, sie warteten schon auf ihre schnellen Trippelschritte, wenn sie den Lift verlassen und eine Etage über ihnen den Flur entlanglaufen würde.    Genauso passierte es dann auch und beide lächelten, jeder aus einem anderen Grund, denn ihre Gedanken unterschieden sich.
   »Ich hab keine Angst davor«, sagte sie und schenkte die Gläser nach.
   »Du meinst vor dem Sterben oder vor dem Totsein?«
   »Letzteres«, presste sie hervor und fügte an: »Vor Ersterem schon!«
   »Ich auch«, antwortete er, drehte sich um und setzte sich wieder auf den Sessel ihr gegenüber.
   »Das sollten wir öfter machen«, dachte er laut. Sie schaute ungläubig.
   »Du meinst, reden?«
   »Nein, ins Theater gehen!«
   »Ach so, ja.« Nervös glättete sie die Deckchen auf dem Tisch und rückte die Gläser ein wenig hin und her.
   »Aber das Thema sollte ein anderes sein, meinst du nicht?«, fragte sie. Er nickte.
   »Ja, vielleicht mal was Lustiges. Irgendetwas, das einen auch mal loslässt und nicht noch Stunden danach immer wieder einholt.« Diesmal war sie es, die kaum merklich nickte.
Von oben hörten sie wieder Schritte … eilige Schritte und ein Splittern von Glas.
   »Was ist denn da los?«, heuchelte sie. Beide schauten an die Decke, als sei es möglich, durch sie hindurchzusehen. Er sprang hoch: »Bei Emilia?«
   »Ich glaube, ja.« Ihr Mund war schmal geworden, auch sie stand auf.
   »Da muss schon wieder was passiert sein.«
Ein Schrei gellte durch die Nacht und ein schneller Schatten streifte unbemerkt ihr Fenster. Beide rührten sich nicht, um besser hören zu können. Dann wieder Geräusche, diesmal von unten, Hilferufe und Geklapper auf der Straße, eilige Schritte.
   »Wieder einer?«, fragte sie, ganz ohne Melodie in ihrer Stimme, und setzte sich wieder. Er hastete ans Fenster.    »Ja«, sagte er, »wieder einer, ich glaube sogar, eine Frau.«
   »Ich werde hier wegziehen müssen«, hauchte sie in ihr Weinglas.
Einige Augenblicke später gingen die Sirenen und zwei Autos fuhren vor, so wie jedes Mal.
   »Wie hieß noch gleich der Typ in dem Stück von vorhin?«
   »Welchen meinst du?«
   »Den Schwarzen, der hatte wenigstens einen richtigen Grund.« Seine Frage ignorierend, fauchte sie bissig:    »Hatte sie auch, die Emilia!« Zwischen seinen Worten und ihrer Antwort war kaum eine Pause gewesen, es schien, als habe sie gewusst, was er sagen würde.
   »Emilia?« Er fuhr erschrocken zusammen, drehte sich aber nicht um. »Du meinst, das da unten ist wirklich Emilia?« Mit allen zehn Fingerspitzen berührte er die Glasscheibe und krächzte: »Welchen Grund sollte sie denn gehabt haben, wenn ich fragen darf?« Die Nervosität in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Dich!«, sagte sie, und ihm war, als würde jemand mit den Fingernägeln, ganz langsam, auf einer Schultafel hinabfahren. Wieder bildeten sich Wölkchen beim Ausatmen an der Fensterscheibe, diesmal aber viel schneller hintereinander, und seine Fingerspitzen waren weiß geworden.
   Das Sofa ächzte, sie war aufgestanden und er hörte ihre Schritte hinter sich. Vergeblich versuchte er den Rhythmus seines Atems zu zügeln. Er stand wie versteinert. Die Lichter der Stadt, so schien es, funkelten etwas schneller.
   Sie suchte sich eine gute Position hinter ihm und ein gezielter Tritt genügte, um die Oktoberkühle mit einem kräftigen Tusch hereinzulassen. Die Leute unten, an den Autos, hatten doppelte Arbeit.
Nach einem tiefen Atemzug ging sie in die Küche, schaltete das Licht ein und trat ans Fenster. Auch bei ihr bildeten sich kleine, schnelle Wölkchen an der Glasscheibe, deren Rhythmus aber nach einigen Augenblicken langsamer wurde. Sie öffnete die Fensterflügel und schrie sich die Seele aus dem Leib. Das hatte sie schon oft gemacht, ein ganzes Jahr lang, immer hinein in ihre Kissen, im Schlafzimmer, und ganz besonders dann, wenn sie den Aufzug im Flur und danach sein Klopfen, oben an Emilias Tür, gehört hatte.

_______________________________________________

 

Geliftet

 


Nur zwei Gedanken hatte er: «Wann und wo.» Mehr war sein Gehirn nicht in der Lage zu denken.
Einssechzig groß war sie, ziemlich klein also. Sie hätte ihm unter dem ausgestreckten Arm hindurchlaufen, können, ohne ihn auch nur zu streifen. Aber Laufen stand nicht zur Debatte. Bewegen auch nicht, unmöglich. Stehen stand zur Debatte, nur so dastehen und zwei Gedanken haben: «Wann und wo?», mehr nicht.
Ein einziges Mal erst war ihm so etwas passiert, ein Blick, ein Augenaufschlag und schon war er nicht mehr in der Lage zu sprechen, zu reagieren oder zu atmen. Zwanzig Jahre müsste das nun her sein. Auch damals schon waren Verabredungen nicht seine Stärke. Ihren Duft hatte er niemals vergessen.

Diesen neuen Duft, ihren Duft, der ihn fast lähmte, der so intensiv war wie der Duft des ersten Kaffees am Morgen, wird er auch nicht vergessen. Das wusste er genau und diesmal würde er sie nicht einfach so gehen lassen, um später dann für Wochen nicht mehr ansprechbar zu sein. Ganz bestimmt nicht. Nicht noch einmal dieses Drama.
Fast ein ganzes Jahr ging er damals immer wieder zurück an den Ort ihrer Begegnung, oder besser; an den Ort seiner Begegnung mit ihr, lungerte vor der Eingangstür herum, bewachte die S-Bahn Station davor und verglich die Gesichter, die ihm begegneten mit dem Bild, welches sich in seine Augen eintätowiert hatte. Doch nichts, er fand sie niemals wieder.
Nun war es abermals da, dieses statische Gefühl des Verlassenseins von einst. Er hasste es und versuchte sich zu bewegen. Es ging nicht, es war wie einst, Ganzkörperlähmung! Früher konnte er sogar sprechen, früher, das war lange her, so ca. 10 Minuten.
               
Statik war eigentlich seine Stärke, wirklich. Da konnte ihm niemand etwas vormachen. Die Chinesen sowieso nicht. Drei Stunden hatte das Meeting gerade gedauert und wie immer brauchten sie nun zwei Tage um ihre Unterschrift zu üben. Am Abend sollte noch ein gemeinsames Essen stattfinden. Er hatte zugesagt, musste zusagen, hatte sein Wort gegeben, aber er würde es brechen, egal was kommen würde. Eine neue Zeitrechnung hing in den Stahlseilen und zählte den Countdown runter. Etage für Etage. Den Auftrag hatte er jetzt schon verloren, das wusste er genau. Ein Volumen von sechzehn Millionen Euro im Fahrstuhl verspielt. Kein Chinese der Welt würde es irgendwie begreifen.

Nachdem sie an ihm vorbei hinausgeschwebt war, blieb er noch zwei Stunden und fuhr ca. sechzig Mal in ihrem Duft von Etage zu Etage, nach unten und nach oben. Erst der Sicherheitsdienst schob ihn aus der Metallkapsel. «Feierabend», sagte man ihm freundlich grinsend: «Genug geliftet, junger Mann, sie müssen jetzt die Treppe nach unten nehmen, hier wird gleich abgeschaltet und sauber gemacht, damit morgen der Gestank hier im Lift weg ist, verstehen Sie?»     
Er nahm sie nicht, er nahm das Fenster. Aus dem Ventilator im sechsten Stock strömte Kaffeeduft, aber für einen tiefen Atemzug reichte die Zeit nicht.

 

_______________________________________________

 

Maja

 

Es war der schlimmste Tag in Huberts Leben, der allerschlimmste, schlimmer noch als der Tag, an dem er von seinem Vater aus dem Haus gejagt wurde, weil er ihm zu dumm war.
»Wer mit zwölf noch nicht lesen kann, hat in dieser Familie nichts verloren«, sagte er.
Gerade erinnerte er sich wieder an den Bahnhof, auf dem er damals stand und wo die Zirkuswagen verladen wurden. »Willste mit?«, fragte ihn Alfonso und wie selbstverständlich stieg er ein. Ohne Worte, einfach so. Zehn Jahre ist das her. Zu Hause ist er seitdem nie mehr gewesen, denn er hatte nun ein neues, den Zirkus. Das Lesen wird er wohl niemals mehr lernen.
»Hier haste was zum Spielen«, murmelte Alfonso, als er ihm das Tigerbaby in die Koje warf. Maja hieß es und schon war es um Hubert geschehen.
Er zog es auf und wich ihm nie von der Seite, schlief bei ihm, fütterte es, war krank, wenn es krank war, und liebte es mehr als sonst irgendetwas auf der Welt. Sie schnurrten sich gegenseitig an, immer dann, wenn es niemand sah, denn für Gefühle ist im Zirkus keine Zeit.
Fast ein ganzes Jahr hatten die beiden den Himmel auf Erden, dann wurde Maja trainiert, trat auf und Hubert war immer an ihrer Seite hinter den Gittern. Bis zu diesem Tag, der gestern war und eben der schlimmste. Alfonso strauchelte, ein Postament war im Weg, er hatte es selbst in seiner Eile falsch aufgestellt, weil Krach war, mit Vicky, wie so oft. Maja holte sich ihn. Endgültig.

Das es so schnell gehen würde kann Hubert immer noch nicht fassen. Ein Blasrohr, ein schnelles Einschlafen und die letzte Spritze, das war's.
Die Stimmungen teilten sich, alles war falsch, das Lachen, das Weinen, der Applaus.
Den Presseheinis ist er aus dem Weg gegangen. Noch immer lungern sie da draußen rum und versuchen ein Foto zu erhaschen. Ach Maja. Man wird sie verbrennen sagte man ihm. An Feuerreifen sei sie ja gewöhnt gewesen.
Die Spätvorstellung begann und alle waren still, so still. Vicky dort oben am Trapez drehte sich wie in Trance, die Clowns hatten echten Schnaps in ihren großen Taschen und das Zelt war voll. Ausverkauft! Hubert hatte seinen ersten Auftritt mit Alfonsos Tigern. Sie waren nur noch zu acht.
Oben, ganz oben in der letzten Reihe, hielt ein älterer Herr ein Schild hoch.
»Bravo, mein Junge!«, hatte jemand mit dicken Lettern drauf gepinselt, aber Hubert konnte ja nicht lesen.

_______________________________________________

 

Dorfklatsch

 


Kurz vor Sommerschluss, gabelte bei Müllers die Vera den halbwegs erwachsenen Jonas von der Gertrud auf. Bei Müller in der Scheune hatten sie's getrieben. Und wie!
Nun, als sie sich, die Vera und der Jonas aufeinander eingelassen hatten, wurden sie beobachtet von Struckie, dem Dorftrottel. Der konnte nicht richtig sprechen und sah auch sonst aus wie Quasimodo, dem eine Handgranate in der Hosentasche explodiert war. Er war zum Heu holen geschickt worden und hatte das Ganze beobachtet. Zu Hause, im Stall, hat er dann nachgeguckt, ob er auch so was hat wie der Jonas. Hatte er nicht, nicht in der Größe. Als die Müllersche ihn dabei erwischte, stammelte er nur rum, dass der Jonas schuld war und das die Vera dem Jonas sein «Ding» groß gemacht hatte. Ob die Müller das auch mal bei ihm machen könnte, fragte er auch noch. Aber sie wollte nicht, sie holte den Dreschflegel. Den holte sie stets, wenn Struckie Blödsinn machte.
Wie immer legte er sich artig über die Pferdebox und ließ sie zuschlagen, achtmal, immer achtmal, mehr schaffte sie nicht.

Die Müller war alt, vierzig, und hatte keinen Mann, nur Struckie und der war ja kein Mann, nur manchmal, bei Pater Gregor, aber das ist eine andere Geschichte. Wenn sie fertig war und Struckie seine Wunden von ihr verbunden bekam, fühlte sie sich besser, fraulicher irgendwie.
Vera war die Tochter von Rohmann, dem gehörte die Wassermühle unten in Berghofen und kam manchmal hoch um Mehl gegen Kartoffeln zu tauschen, dabei hatte sie auch den Jonas kennengelernt. Seine Mutter, die Gertrud, war die Nachbarin von der Müllerschen. Das sogenannte Haus hatten sie ihr damals zugewiesen. Ein alter Katen, der nichts wert war und in dem früher die alten Leute zum Sterben hingegangen waren. Sie hatten es sich ganz hübsch gemacht, die Gertrud und der Jonas. Gertrud war ein Arbeitspferd, half jedem bei der Ernte und erledigte Besorgungen für alle Welt. Jeden Pfennig steckte sie in ihre Hütte, sodass es schon Überlegungen gab, weil es inzwischen ein ganz ansehnliches Häuschen geworden war, es ihr wieder wegzunehmen. Aber das hatte die Müller verhindert, sie war ganz zufrieden mit ihren neuen Nachbarn und fürchtete sich ein wenig davor, dass irgendwas Fremdes zu ihr hochgezogen kam. Mit der Müller ist nicht zu spaßen gewesen, ihr gehörte das halbe Dorf. Alles Nachlässe. Ihr Vater war der Enkel von einem Großgrundbesitzer gewesen, hatte alles von ihm geerbt und dann seiner Tochter vermacht. Sie hatte niemals etwas verkauft, niemals.

«Gertrud!», brüllte die Müller quer über das Grundstück, als sie ihre Nachbarin beim Wäscheaufhängen sah. Die zuckte zusammen und schaute mit großen Augen rüber. «Dein Junge ist seit heute kein Kind mehr, der hat sein Aussiedlerding in die Vera reingesteckt und der Struckie hat's gesehn und ich sollte gleich mit ihm machen, was er sonst nur bei Pater Gregor machen muss!», brüllte sie. Gertrud verstand kein Wort und fragte nur: «Was?»
«Er hat dem Bauch von dem Rohmann seiner Göre einen Besuch abgestattet!» Gertrud wurde blass.
«Sicher?» fragte sie.
«Der Struckie hat's gesehn, Gertrud, der kann nicht lügen!»
Die Müllersche grinste wie ein Honigkuchenpferd und genoss den blassen Anblick ihrer Nachbarin. Die murmelte nur: «Nicht die Vera, bloß nicht die fette Vera!»
Abends dann, als Jonas wieder am Tisch bei seiner Mutter saß, haute sie ihm die heiße Bratpfanne mit den Eiern um die Ohren. Er schrie wie am Spieß und kriegte schreckliche Verbrennungen im Gesicht. Gewehrt hatte er sich nicht, gegen seine Mutter tat er das niemals, ein Aussiedlerkind eben. Nachdem die Wunden gekühlt waren, packte er seine Sachen und verschwand. Niemand sah ihn je wieder. Gertrud nicht, die Müller nicht und Vera auch nicht.
Man munkelte spöttisch, nachdem ein paar Monate vergangen waren, dass er jetzt bei einem Zirkus war und Elefanten trainierte, weil er sich ja mit dicken Dingern auskannte. Später hat die Müllersche dem Struckie sein Ding doch noch groß gemacht und ihn ab und zu an die Nachbarin ausgeliehen, seitdem kam Rohmann nicht mehr zu ihr, er hatte ja auch seit Kurzem einen Enkel. Der sollte später mal Soldat werden, beschloss er. «Da wird einem Zucht und Ordnung beigebracht», sagte er zu seiner Tochter, die noch fetter geworden war und fast zu platzen schien.