Aus Welten, die von irgendwo den hämischen Ruf nach Freiheit lachten, flog stolpernd, rückwärts, mit zerfetzten Segeln ein Schiff hierher. Schwarze Reise. Die Mannschaft verloren. Nur der Kapitän, dem eine schneeweiße Katze um die Füße strich, wartete darauf, dass das Boot sich beruhigte, auspendelte.
Ein Corvus Marinus, tiefrot wie ein verglühendes Stück Stahl in der Esse, segelte mit starren, klebrigen Flügeln aus der Ferne heran. Geübtes Landen auf der Mastspitze. Rotes triefte ihm aus den Federn, Tropfen für Tropfen klatschte es aufs Deck, 42 Mal. Vom Kapitän keine Regung, als der Vogel klagend rief.
42 Seemannsseelen im Unbekannt verschollen.
Am Horizont Blutsonne.
Das Schiff stand still. Kein Lufthauch. Das Wasser ein Spiegel. Schlaff baumelten die Stofffetzen der Segel an der Rah. Ruhe, Lautlosigkeit, Frieden.
Dann Geräusche, erst leise, Sekunden später lauter werdend. Schritte auf den verwitterten Brettern des Landestegs; kurze, eilige Schritte, schnelle Schritte, tänzelnde Schritte und Nesthäkchenworte: »Hast du sie mir zurückgebracht?«
Tiefe Kapitänsverbeugung. In seiner Pranke ein Bündel.
Hinreichen.
Winzige Händchen umschlossen glücklich das weiße Fell. Eine gegerbte Hand legte sich auf den bezopften Kopf. Das Lächeln aus Granit.
Und aus dem Himmel herab, mit wolkiger Schrift gemalt, forderte die Ferne Rückkehr. Dem Kapitän bohrte sich – mehr ersehnt, als tatsächlich beobachtet – die Zahl 43 ins Auge. Der Wasserrabe, oben auf der hölzernen Spitze des mahnend ausgestreckten Schiffszeigefingers, inzwischen schwarz wie die Seelen derer, die taten, was sie taten, hatte es wohl auch gespürt und hob ab. Zu spät kommen, wenn ein Kapitän als Letzter von Bord geht, das wollte er sich offenbar nicht entgehen lassen.
In der Takelage knarrte es.
Was von den Segeln übrig war, wellte sich flatternd im Meeresatem.
Einmal noch lief das Schiff aus.
Eine kleine Hand, in weichem, weißen Fell verglücklicht, dann doch losgelöst, winkte ihm nach, bis es unsichtbar wurde.
© tom walter 2019
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Allez-Hop
Die Kleinstadt, die der liebe Gott einst vom Himmel fallen ließ und die seither den Norden Deutschlands etwas farbiger macht, schlief sich noch den Rausch des Winters aus. Der erste sonnige Tag des Jahres erwachte. Es war ein fast geräuschloser Sonntagvormittag, kaum ein Laut war zu hören. Eine Spatzenfamilie badete in einer kleinen Pfütze, unten auf der Straße, und in den noch blattlosen Bäumen, entlang der Allee, die sich um den Ort herum schlängelt, zwitscherten ein paar voreilige Nestbauer. Millimeter für Millimeter schob sich die Sonne um die Hausecke der städtischen Pension, traf auf die schneeweiße Fassade der Vorderfront und machte augenblicklich die Idylle etwas heller. Die Spatzen stoben auseinander. Sonne waren sie wohl nicht mehr gewöhnt. Die Straße, vor der Herberge, lag wie geleckt, wie ein schwarzer, frisch gereinigter Teppich, fast jungfräulich anmutend, den Winter ausatmend, dampfend neben einem Flüsschen. Vom Eis der kalten Jahreszeit befreit, gurgelte es sich übermütig durch die Windungen seines Bettes und brach sich schäumend an den Brückenpfeilern eines hölzernen Überganges, der zu einem freien Platz gegenüber der Pension führte. Ein Denkmal steht dort. Es erinnert an die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkrieges und wird von einem gusseisernen Adler gekrönt, der, ausgestattet mit scharfem Blick und weit ausgebreiteten Flügeln, oben auf der Spitze thront. Seine Augen haben etwas Magnetisches, man kann nicht umhin in sie hinein zu sehen, da ist es ganz gleich, ob man als Eingeborener daran vorbei kommt oder als Gast nur eine Nacht in der Stadt verweilt. Das Ehrenmal ist ein Platz der Ruhe, eine Insel, ein Ort, der nachdenklich macht. An diesem Sonntagmorgen passierte das auch, denn in die kalten Augen des Adlers bohrten sich die Blicke eines alten Bekannten, der aus dem Fenster der Pension schaute und sich an seine Kindheit erinnerte.
Tief ausatmend setzte sich Conrad an das Tischchen, das vor den Fenstern seines Hotelzimmers stand. Er dachte an die alten Zeiten zurück. Die drei Fenster, im hölzernen Erker der ersten Etage – das eine war nach Osten, das mittlere nach Süden und das Dritte nach Westen ausgerichtet – erlaubten ihm einen fast Rundumblick in seine alte Heimat. Sie hatte sich kaum verändert.
Es war viele Jahre her, dass Conrad, gemeinsam mit seinem Bruder, dort drüben am Denkmal saß und sie sich auf ihre ganz besondere Art und Weise zu Füßen ihres Vaters unterhielten, denn er wachte über sie, da waren sie sich damals ganz sicher. Sein Name ist mit goldenen Lettern in die Marmortafel, am Fuße des Gedenksteines eingeschlagen. Stets glaubten beide, dass die Augen des Adlers sie beobachteten und er selbst, der eiserne Vogel, stellvertretend für ihren Vater, ihnen über die Schultern sah und ihren Worten lauschte. Niemals hatten sie es angezweifelt, niemals. So hatte es ihnen einst ihre Mutter mit erhobenem Zeigefinger erklärt und es gab seinerzeit keinerlei Grund ihr nicht zu vertrauen. Schon damals übte der Ort eine große Faszination auf die beiden Kinder aus. Sie studierten die Namen der gefallenen Soldaten, schlugen sie im Telefonbuch nach, das in der gelben Zelle auf dem Marktplatz lag, besuchten die Häuser derjenigen, deren Familienname zu denen passte, die im Denkmal verewigt waren, und legten manchmal – der Pfarrer hatte ihnen den Tipp gegeben, ein paar selbst gepflückte Blumen vor den Eingangstüren ab.
Die Kirche, nicht weit vom Denkmal entfernt, war oft Ziel in ihrer Freizeit, denn der damalige Kantor ließ beide auf dem Harmonium spielen. Später brachte er sogar Wilhelm das Orgelspiel und Conrad das Spielen auf einem Bandoneon bei. Dass er damit den Grundstein für eine große Karriere legte, wusste der alte Kantor natürlich nicht, denn als Conrad einmal, als er klein war, ein Zirkusplakat entdeckte, auf dem ein Clown abgebildet war, der Bandoneon spielte, war es um ihn geschehen. In diesem Moment wusste er, was einmal aus ihm werden würde und so kam es dann auch. Aus Conrad wurde später ein stummer Clown und aus Wilhelm, seinem Bruder, ein Mann Gottes. Unterschiedlicher konnten keine Biografien sein. Das ist lange her und inzwischen sind beide schon sehr viel älter als es ihr Vater gewesen war, bevor er von den Franzosen in den Himmel geschickt wurde.
Conrad hatte seiner Heimat früh den Rücken gekehrt und ist seitdem weltweit unterwegs. Es gibt kaum ein Land auf der Erde – den afrikanischen Kontinent einmal ausgenommen, das er noch nicht bereist hat. Sein Bruder jedoch, Wilhelm, hat seine Heimatstadt niemals richtig verlassen. Nach dem Studium kehrte er sofort zurück und ist seither Stadtpfarrer im Ort seiner Geburt. Ein Jahr lang hatten er und sein Bruder sich nicht gesehen.
Es klopfte an der Tür des Zimmers. Die Besitzerin der städtischen Pension, die als Herberge für Durchreisende ihre beste Zeit bereits hinter sich hatte, brachte höchstpersönlich das Frühstück nach oben und stellte das Tablett, das mit einem Sträußchen Blumen dekoriert war, auf dem Tisch am Fenster ab. »Ihre Tageszeitung«, sagte sie, in vertrautem norddeutschen Dialekt und übergab ihrem einzigen Gast, wie am Vorabend abgesprochen, den frisch gebügelten ‹Stadtanzeiger› vom Vortag. »Alte Schule«, dachte Conrad, nickte dankend und legte das Blatt neben sich auf das Fensterbrett.
Das Frühstück war liebevoll hergerichtet, es fehlte nichts. Der Tee dampfte aus einem Kännchen. Etwas Schinken, Wurst und Käse, auf einem silbernen Tablett angerichtet, mit Tomate, Gurken garniert, strahlten ihn an und der heiße Toast, in eine Serviette eingewickelt, duftete verführerisch. Conrad war hungrig, trennte die Serviette von ihrem glänzenden Silberring und griff zum Besteck. Die Zeitung würde er später lesen.
Artig verabschiedete sich die Wirtin, wünschte ihrem stillen Gast einen angenehmen Aufenthalt, musterte verstohlen aus den Augenwinkeln argwöhnisch das Kostüm, das fein säuberlich am Kleiderschrank aufgehangen war, und verließ das Zimmer. Fast geräuschlos fiel die Tür ins Schloss.
Vor ein paar Tagen kam ein Brief. Fast fünf Wochen war er unterwegs gewesen. Viele Stationen hatte er passiert und letztendlich dann doch seinen Empfänger, Conrad, in Italien, erreicht. So war es schon immer gewesen; dem fahrenden Volk eine Nachricht zukommen zu lassen braucht seine Zeit. Wilhelm hatte den Brief verfasst, er steckte noch immer in der Innentasche von Conrads Joppe. Schon mehrfach hatte er ihn gelesen und zog ihn nun noch einmal hervor. Mit der dampfenden Teetasse in der Hand studierte er ihn ein weiteres Mal.
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